Band 1 / Märchen 3
Urfassung aus dem Jahre 1812 - 1814
Marienkind
Vor einem großen Walde lebte ein Holzhacker mit seiner Frau und seinem einzigen Kind, das war ein Mädchen und drei Jahr alt. Sie waren aber so arm, daß sie nicht mehr das tägliche Brot hatten und nicht wußten, was sie ihm sollten zu essen geben. Da ging der Holzhacker voller Sorgen hinaus in den Wald an seine Arbeit, und wie
er da Holz hackte, stand auf einmal eine schöne große Frau vor ihm, die hatte eine Krone von leuchtenden Sternen auf dem
Haupt und sprach zu ihm: „ich bin die
Jungfrau Maria, die Mutter des Chriſtkindleins, bring mir dein Kind, ich will es mit mir nehmen, seine Mutter sein und für es sorgen.“
Der Holzhacker gehorchte und holte sein Kind und gab es der Jungfrau Maria, die nahm es mit sich
hinauf in den Himmel. Da ging es ihm wohl, es aß bloß Zuckerbrot und trank süße Milch, und seine Kleider waren von Gold und die
Englein spielten mit ihm. So war es vierzehn Jahre im Himmel, da mußte die Jungfrau Maria eine große Reise machen; eh sie aber weg
ging, rief sie das Mädchen und sagte: „liebes Kind, da vertrau ich dir die Schlüssel zu den dreizehn Türen des Himmelreichs, zwölf
darfst du aufschließen und betrachten, aber die dreizehnte nicht, die dieser kleine
Schlüssel öffnet.“ Das Mädchen versprach ihren Befehlen zu gehorchen, wie nun die Jungfrau weg war
öffnete es jeden Tag eine Türe, und sah die Wohnungen des Himmelreichs. In jeder saß ein Apostel und war so viel Glanz umher, daß es
sein Lebtag solche Pracht und Herrlichkeit nicht gesehen. Als es die zwölf Türen aufgeschlossen hatte, war die verbotene noch übrig; lange widerstand es seiner Neugier, endlich aber ward es davon überwältigt und
öffnete auch die dreizehnte. Und wie die Türe aufging, sah es in Feuer und Glanz die Dreieinigkeit sitzen und rührte ein
klein wenig mit dem Finger an den Glanz, da ward er ganz golden, dann aber schlug es geschwind die Türe zu und lief fort; sein Herz
klopfte und wollte gar nicht wieder aufhören. Nach wenigen Tagen aber kam die
Jungfrau Maria von ihrer Reiſe zurück und forderte die Himmelsschlüssel von dem Mädchen, und
wie es sie reichte, sah sie es an und ſagte: „haſt du auch nicht die dreizehnte Türe geöffnet?“ — „Nein,“ antwortete es. Da legte sie ihre Hand auf
ſein Herz, das klopfte und klopfte, da sah sie, daß es ihr Gebot übertreten und die Thüre aufgeschlossen hatte: „hast du es
gewiß nicht getan?“ „Nein,“ ſagte das Mädchen noch einmal. Da sah sie den goldenen Finger, womit es das himmlische Feuer angerührt
hatte, und wußte nun gewiß, daß es schuldig war und sprach: „du haſt mir nicht gehorcht und hast gelogen, du bist nicht mehr
würdig im Himmel zu sein.
Da versank das Mädchen in einen tiefen, tiefen Schlaf, und als es erwachte, war
es auf der Erde und lag unter einem hohen Baum, der war rings mit dichten Gebüschen umzäunt, so daß es ganz eingeschlossen war, der Mund war ihm auch verschlossen und es konnte kein Wort reden. In dem
Baum war eine Höhle, darin saß es bei Regen und Gewitter, und schlief es in der Nacht; Wurzeln und Waldbeeren waren ſeine
Nahrung, die suchte es sich, so weit es kommen konnte. Im Herbſt sammelte es Wurzeln und Blätter und trug sie in die Höhle, und
wenn es dann schneite und fror, saß es darin. Seine Kleider verdarben auch und fielen ihm ab, da saß es in die Blätter ganz
eingehüllt, und wenn die Sonne wieder warm schien ging es heraus, setzte sich vor denbBaum, und seine langen Haare bedeckten es von allen
Seiten wie ein Mantel.
Einmal, als es so im Frühjahr vor dem Baume ſaß, drängte sich jemand mit Gewalt durch das Gebüsch, das war aber der König, der in dem Wald gejagt und sich verirrt hatte.
Er war erstaunt, daß in der Einöde ein so schönes Mädchen allein saß, und fragte es: ob es mit auf ſein Schloß gehen wollte. Es konnte aber nicht antworten, sondern nickte bloß ein wenig mit dem Kopf, da hob es der König auf sein Pferd und führte es mit sich heim und bald gewann er es so lieb, daß er es zu seiner Gemahlin machte. Nach Verlauf eines Jahres
brachte die Königin einen schönen Prinzen zur Welt. In der Nacht erschien ihr die Jungfrau Maria und sprach: „sag' jetzt die Wahrheit, daß du die verbotene Tür aufgeschlossen hast, dann will ich dir die
Sprache wiedergeben, ohne die du doch nicht recht vergnügt leben kannst, bist du aber hartnäckig und willst es nicht gestehen, so
nehm' ich dein Kind mit.“ Die Königin
aber blieb dabei, sie habe die verbotene Thüre nicht geöffnet. Da nahm die Jungfrau Maria das kleine
Kind und verschwand damit. Am andern Morgen aber, als das Kind fort war, ging ein Gemurmel, die stumme Königin sei eine
Menschenfresserin und habe ihr eigen Kind gegessen. —
Nach einem Jahr gebar die Königin wieder einen Prinzen, die Jungfrau Maria trat wieder vor sie und bat sie, nun die Wahrheit zu sagen, sonst verliere sie auch das zweite Kind. Die Königin aber beharrte darauf, sie habe die verbotene Thür nicht geöffnet, und die Jungfrau nahm das Kind mit sich fort. Am Morgen, als es fehlte, sagten des Königs Räte laut, die Königin sei eine Menschenfresserin und drangen darauf, daß ſie für ihre gottlose Taten gerichtet werde; der König aber hieß sie stillſchweigen und wollte es nicht glauben, weil er die Königin so lieb hatte. Im dritten Jahr brachte sie eins Prinzessin zur Welt, da erschien die Jungfrau Maria wieder, nahm sie mit in den Himmel und zeigte ihr da ihre zwei ältesten Kinder, die mit der Weltkugel spielten. Darauf bat sie noch einmal, sie mögte ihren Fehler gestehen und nicht länger bei der Lüge beharren. Aber die Königin war nicht zu bewegen, und blieb bei ihrer Aussage. Da verließ sie die Jungfrau Maria, und nahm das jüngſte Kind auch mit sich.
Der König konnte nun seine Räte nicht länger zurückhalten, sie behaupteten, die Königin sei eine Menschenfresserin, das sei gewiß, und weil sie stumm war, konnte sie sich nicht verteidigen, da ward sie verdammt auf dem Scheiterhaufen zu sterben. Wie sie nun darauf stand, angebunden war, und das Feuer rings schon zu brennen anfing, da ward ihr Herz bewegt und sie gedachte bei sich: „ach, wenn ich auch sterben müßte, wie gern wollt' ich der Jungfrau Maria vorher noch gestehen, daß ich
die verbotene Türe im Himmel aufgeschlossen habe, wie hab' ich so bös' getan, das zu leugnen!“ Und wie sie das gedachte, in dem Augenblick, da tat sich der Himmel auf, und die Jungfrau Maria kam herunter, zu ihren Seiten die beiden ältesten Kinder, auf ihrem Arm das jüngste; das Feuer aber löschte sich von selbſt aus, und sie trat zur Königin und sprach:
„da du die Wahrheit hast sagen wollen, ist dir deine Schuld vergeben,“ und reichte ihr die Kinder, öffnete ihr den Mund, daß sie von nun an sprechen konnte, und verlieh ihr Glück auf ihr Lebtag.
Grimm Essenz Nr. 58