Gebrüder Grimm

Vorwort der Gebrüder Grimm Originalausgabe Urfassung unverändert 1812-1814

Abschrift 

Wir finden es wohl, wenn von Sturm und anderem Unglück, das der Himmel schickt, eine ganze Saat zu Boden geschlagen wird, dass noch bei niedrigen Hecken oder Sträuchern, die am Wege stehen, ein kleiner Platz sich gesichert hat, und einzelne Ähren aufrecht geblieben sind. Scheint dann die Sonne wieder günstig, so wachsen sie einsam und unbeachtet fort: keine frühe Sichel schneidet sie für die großen Vorratskammern, aber im Spätsommer, wenn sie reif und voll geworden, kommen arme Hände, die sie suchen, und Ähre an Ähre gelegt, sorgfältig gebunden und höher geachtet als sonst ganze Garben, werden sie heim getragen, und winter lang sind sie Nahrung, vielleicht auch der einzige Samen für die Zukunft. So ist es uns vorgekommen, wenn wir gesehen haben, wie von so vielem, was in früherer Zeit geblüht hat, nichts mehr übrig geblieben, selbst die Erinnerung daran fast ganz verloren war, als unter dem Volke Lieder, ein paar Bücher, Sagen und diese unschuldigen Hausmärchen. Die Plätze am Ofen, der Küchenherd, Bodentreppen, Feiertage noch gefeiert, Triften und Wälder in ihrer Stille, vor allem die ungetrübte Phantasie sind die Hecken gewesen, die sie gesichert und einer Zeit aus der andren überliefert haben.             So denken wir jetzt, nachdem wir diese Sammlung übersehen; anfangs glaubten wir auch hier schon vieles zu Grund gegangen, und nur die Märchen noch allein übrig, die uns etwa selbst bewusst, und die nur abweichend, wie es immer geschieht, von andern erzählt würden. Aber aufmerksam auf alles, was von der Poesie wirklich noch da ist, wollten wir auch dieses abweichende kennen, und da zeigte sich dennoch manches neue und ohne eben im Stand zu sein, sehr weit herum zu fragen, wuchs unsre Sammlung von Jahr zu Jahr, dass sie uns jetzt, nachdem etwa sechse verfloſſen, reich erscheint; dabei begreifen wir, dass uns noch manches fehlen mag, doch freut uns auch er Gedanke, das meiſte und beſte zu besitzen.

Alles ist mit wenigen bemerkten Ausnahmen fast nur in Hessen und den Main- und Kinziggegenden in der Grafschaft Ha-
nau, wo wir her sind, nach mündlicher Überlieferung gesammelt; darum knüpft sich uns an jedes Einzelne noch eine angenehme Erinnerung. Wenig Bücher sind mit solcher Luſt entstanden, und wir sagen gern hier noch einmal öffentlich Allen Dank, die Teil daran haben. 

Es war vielleicht gerade Zeit, diese Märchen festzuhalten, da diejenigen, die sie bewahren sollen, immer seltener werden (freilich, die sie noch wissen, wissen auch recht viel, weil die Menschen ihnen absterben, sie nicht den Menschen), denn die Sitte darin nimmt selber immer mehr ab, wie alle heimlichen Plätze in Wohnungen und Gärten einer leeren Prächtigkeit weichen, die dem Lächeln gleicht, womit man von ihnen spricht, welches vornehm aussieht und doch so wenig koſtet. Wo sie noch da sind, da leben sie so, dass man nicht daran denkt, ob sie gut oder schlecht sind, poetisch oder abgeschmackt, man weiß sie und liebt sie, weil an sie eben so empfangen hat, und freut sich daran ohne einen Grund dafür: so herrlich ist die Sitte, ja auch das hat diese Poesie mit allem unvergänglichen gemein, dass man ihr selbst gegen einen andren Willen geneigt sein muss.

Leicht wird man übrigens bemerken, dass sie nur da gehaftet, wo überhaupt eine regere Empfänglichkeit für Poesie oder eine noch nicht von den Verkehrtheiten des Lebens ausgelöschte Phantasie gewesen. Wir wollen in gleichem Sinn hier
die Märchen nicht rühmen, oder gar gegen eine entgegengesetzte Meinung verteidigen: jenes bloße Dasein reicht hin, sie zu schützen. Was so mannigfach und immer wieder von neuem erfreut, bewegt und belehrt hat, das trägt seine Notwendigkeit in sich, und ist gewiß aus jener ewigen Quelle gekommen, die alles Leben bethaut, und wenn auch nur ein einziger Tropfen, den ein kleines zusammenhaltendes Blatt gefaßt, doch in dem ersten Morgenroth schimmernd.

Innerlich geht durch diese Dichtungen die selbe Reinheit, um derentwillen uns Kinder so wunderbar und seelig erscheinen; sie haben gleichsam die selben bläulich-weißen, makellosen, glänzenden Augen (in die sich die kleinen Kinder selbſt so gern greifen*1 die nicht mehr wachsen können, während die andren Glieder noch zart, schwach, und zum Dienst der Erde ungeschickt sind. So einfach sind die meisten Situationen, dass viele sie wohl im Leben gefunden, aber wie alle
wahrhaftigen doch immer wieder neu untergreifend. Die Eltern haben kein Brod mehr, und müssen ihre Kinder in dieser Not
verstoßen, oder eine harte Stiefmutter läßt sie leiden **2), und mögte sie gar zu Grunde gehen lassen. Dann sind Geschwister in des Waldes Einsamkeit verlassen, der Wind erschreckt sie, Furcht vor den wilden Tieren, aber sie stehen sich in allen Treuen bei, das Brüderchen weiß den Weg nach Haus wieder zu finden, oder das Schwesterchen, wenn Zauberei es verwandelt, leitet es als Rehkälbchen und sucht ihm Kräuter und Moos zum Lager; oder es sitzt schweigend und näht ein Hemd aus Sternblumen, das den Zauber vernichtet. Der ganze Umkreis dieser Welt ist bestimmt abgeschlossen: Könige, Prinzen, treue Diener und ehrliche Handwerker, vor allen Fischer, Müller, Köhler und Hirten, die der Natur am nächsten geblieben, erscheinen darin; das andere ist ihr fremd und unbekannt.

Auch, wie in den Mythen, die von der goldnen Zeit reden, ist die ganze Natur belebt, Sonne, Mond und Sterne sind zugänglich, geben Geschenke, oder lassen sich wohl gar in Kleider weben, in den Bergen arbeiten[…] die Zwerge nach dem Metall, in dem Wasser schlafen die Nixen, die Vögel[…] (Tauben sind die geliebtesten und hilfreichsten), Pflanzen, Steine reden und wissen ihr Mitgefühl auszudrücken, das Blut selber ruft und spricht, und so übt diese Poesie schon Rechte, wonach die spätere nur in Gleichnissen strebt. Diese unschuldige Vertraulichkeit des größten und kleinsten hat eine unbeschreibliche
Lieblichkeit in sich, und wir mögten lieber dem Gespräch der Sterne mit einem armen verlassenen Kind im Wald, als dem Klang der Sphären zuhören. Alles schöne ist golden und mit Perlen bestreut, selbst goldne Menschen leben hier, das Unglück aber eine finstere Gewalt, ein ungeheurer menschenfressender Riese, der doch wieder besiegt wird, da eine gute Frau zur Seite steht, welche die Not glücklich abzuwenden weiß, und dieses Epos endigt immer, indem es eine endlose Freude auftut.

Das Böse auch ist kein kleines, nah stehendes und das schlechteste, weil man sich daran gewöhnen könnte,
sondern etwas entsetzliches, schwarzes, streng geschiedenes, dem man sich nicht nähern darf; eben so furchtbar die Strafe desselben: Schlangen und giftige Würmer verzehren ihr Opfer, oder in glühenden Eisenschuhen muß es sich zu tot tanzen.

Vieles trägt auch eine eigene Bedeutung in sich: die Mutter wird ihr rechtes Kind in dem Augenblick wieder im Arme haben, wenn sie den Wechselbalg, den ihr die Hausgeister dafür gegeben, zum Lachen bringen kann; gleichwie das Leben des Kindes mit dem Lächeln anfängt und in der Freude fortwährt, beim Lächeln im Schlaf aber die Engel mit ihm reden. So ist eine Viertelstunde täglich über der Macht des Zaubers, wo die menschliche Gestalt frei hervortritt, als könne uns keine Gewalt ganz einhüllen, und es gewähre jeder Tag Minuten, wo der Mensch alles falsche abschüttele und aus sich selbst herausblicke; dagegen aber wird der Zauber auch nicht ganz gelöst, und ein Schwanenflügel bleibt statt des Arms, und weil eine Träne gefallen, ist ein Auge mit ihr verloren,oder die weltliche Klugheit wird gedemütigt und der Dummling, von allen verlacht und
hintangesetzt, aber reines Herzens, gewinnt allein das Glück.

In diesen Eigenschaften aber ist es gegründet, wenn sich so leicht aus diesen Märchen eine gute Lehre, eine Anwendung für die Gegenwart ergiebt; es war weder ihr Zweck, noch sind sie darum erfunden, aber es erwächst daraus, wie eine gute Frucht aus einer gesunden Blüte ohne zutun der Menschen. Darin bewährt sich jede echte Poeſie, dass sie niemals ohne Be-
ziehung auf das Leben sein kann, denn sie ist aus ihm aufgestiegen und kehrt zu ihm zurück, wie die Wolken zu ihrer Geburtsstätte, nachdem sie die Erde getränkt haben.

So erscheint uns das Wesen dieser Dichtungen; in ihrer äußeren Natur gleichen sie aller volks- und sagenmäßigen: nirgends feststehend, in jeder Gegend, fast in jedem Munde, sich umwandelnd, bewahren sie treu denselben Grund. Indessen unterscheiden sie sich sehr bestimmt von den eigentlich localen Volksſagen, die an leibhafte Örter oder Helden der Geschichte gebunden sind, deren wir hier keine aufgenommen, wiewohl viele gesammelt haben, und die wir ein andermal herauszugeben denken. Mehrere Äußerungen einer und derselben Sage wegen ihrer angenehmen und eigenthümlichen
Abweichungen haben wir einigemal mitgeteilt, das minder bedeutende in dem Anhang, überhaupt aber so genau gesammelt,
als uns möglich war.

Gewiss ist auch, dass sich die Märchen in dem Fortgange der Zeit beſtändig neu erzeugt, eben darum aber muß ihr Grund sehr alt sein, bei einigen wird es durch Spuren in Fischart und Rollenhagen, die an ihrem Ort bemerkt sind, für beinah drei Jahrhunderte besonders bewiesen; es ist aber außer Zweifel, dass sie noch gar viel älter sind, wenn auch Mangel an Nachrichten direkte Beweise unmöglich macht. Nur ein einziger, aber sicherer ergibt sich aus ihrem Zusammenhang mit dem großen
Heldenepos und der einheimischen Tierfabel, welchen auszuführen natürlich hier der Ort nicht war, einiges ist jedoch im Anhang gleichfalls darüber gesagt worden.

Weil diese Poesie dem ersten und einfachsten Leben so nah liegt, so sehen wir darin den Grund ihrer allgemeinen Verbreitung, denn es gibt wohl kein Volk, welches sie ganz entbehrt. Selbst die Neger im westlichen Afrika vergnügen ihre Kinder mit Erzählungen, und von den Griechen sagt es Strabo ausdrücklich (Man wird dies Zeugniß am Ende finden bei den andern, welche beweisen, wie sehr diejenigen, die gewusst, was eine solche unmittelbar zum Herzen redende Stimme wert ist, solche Märchen geschätzt haben). Noch ein anderer höchst merkwürdiger Umstand erklärt sich daraus, nämlich die große Ausbreitung dieser deutschen. Sie erreichen hierin nicht bloß die Heldensagen von Siegfried dem Drachentöter, sondern sie übertreffen diese sogar, indem wir sie, und genau dieselben, durch ganz Europa verbreitet finden, so daß sich in ihnen eine Verwandtschaft der edelsten Völker offenbart.

Aus dem Norden kennen wir nur die dänischen Kämpe-Viser, die vieles hierhergehörige enthalten, wenn gleich schon als Lied, welches nicht mehr ganz für Kinder paßt, weil es gesungen sein will, doch läßt sich hier die Gränze eben so wenig genau angeben, als zu der ernsthafteren, historischen Sage, und es gibt allerdings Vereinigungspunkte. England besitzt die Tabartische eben nicht sehr reiche Sammlung, aber welche Reichtümer von mündlicher Sage müssen in Wallis, Schottland und Irland noch vorhanden sein, ersteres hat in seiner (jetzt gedruckten) Mabinogion allein einen wahren Schatz. Auf eine ähnliche Weise sind Norwegen, Schweden und Dänemark reich geblieben, weniger vielleicht die südlichen Länder; aus Spanien ist uns nichts bewußt, doch läßt eine Stelle des Cervantes über das Dasein und Erzählen der Märchen keinen Zweifel *3. Frankreich hat gewiß noch jetzt mehr, als was Charles Perrault mitteilt, der allein sie noch als Kindermärchen behandelte (nicht seine schlechteren Nachahmer, die Aulnoi, Murat); er gibt nur neun, freilich die bekanntesten, die auch zu den schönsten gehören. Sein Verdienſt besteht darin, daß er nichts hinzugesetzt und die Sachen an sich, Kleinigkeiten abgerechnet, unverändert gelassen; seine Darstellung verdient nur das Lob, so einfach zu sein, als es ihm möglich war; an sich ist der französische Sprache, die sich
ihrer jetzigen Bildung nach, fast wie von selbst zu epigrammatischen Wendungen und feingeschnitztem Dialog zusammenkräuselt (man sehe nur das Gespräch zwischen Riquet à la houpe und der dummen Prinzessin, so wie das Ende von petit poucet), wohl nichts schwerer, als naiv und gerad, das heißt in der Tat, nicht mit der Prätension darauf, Kindermärchen zu erzählen; außerdem sind sie manchmal unnötig gedehnt und breit.

Eine Analyse, die vor einer Ausgabe steht, sieht es so an, als habe Perrault sie zuerst erfunden, und von ihm (geb. 1633, geſtorben 1703.) seien sie zuerst unter das Volk gekommen; bei dem Däumling wird sogar eine absichtliche Nachahmung Homers behauptet, welche Kindern die Not des Odysseus beim Polyphem habe verständlich machen wollen; eine bessere Ansicht hat Johanneau. Reicher als alle anderen sind ältere italienische Sammlungen, erstlich in den Nächten des Straparola, die manches gute enthalten, dann aber besonders im Pentamerone des Basile einem in Italien eben so bekannten und beliebten, als in Deutschland seltenen und unbekannten, in neapolitanischen Dialekt geschriebenen, und in jeder Hinsicht vortrefflichen Buch. Der Inhalt ist fast ohne Lücke und falschen Zusatz, der der Stil überfließend in guten Reden und Sprüchen. Es
ganz lebendig zu übersetzen gehörte ein Fiscgart und sein Zeitalter dazu; wir denken es indessen in dem zweiten Band der vorliegenden Sammlung zu verdeutlichen, worin auch alles andere, was fremde Quellen gewähren, seinen Platz finden soll.

Wir haben uns bemüht, diese Märchen so rein als möglich wahr aufzufassen, man wird  in vielen Erzählungen von Raimen und Versen unterbrochen finden, die sogar manchmal deutlich alliterieren, beim Erzählen aber niemals gesungen werden, und gerade diese sind die ältersten und besten. Kein Umstand ist hinzugedichtet und verschönert und abgeändert worden, in sich selbst so reiche Sage mit ihrer eigenen Analogie und Reminiszenz zu vergrößern, sie sind unerfindlich. In diesem Sinne existiert noch keine Sammlung in Deutschland, man hat sie fast immer nur als Stoff benutzt, um größere Erzählungen daraus zu machen, die willkürlich erweitert, verändert, was sie auch sonst wert sein konnten, doch immer den Kindern das Ihrige aus den Händen rissen, und ihnen nichts dafür gaben. Selbst wer an sie gedacht, konnte es doch nicht lassen, Manieren, welche die Zeitpoesie gab, hineinzumischen; fast immer hat es auch an Fleiß beim Sammeln gefehlt und ein paar wenige, zufällig etwa
aufgefaßte, wurden ſogleich mitgetheilt. Wären wir so glücklich gewesen, sie in einem recht bestimmten Dialekt erzählen zu können, so zweifeln wir nicht, würden sie viel gewonnen haben; es ist hier ein Fall, wo alle erlangte Bildung, Feinheit und Kunst der Sprache zu Schanden wird, und wo man fühlt, dass eine geläuterte Schriftsprache, so gewandt sie in allem andren sein mag, heller und durchsichtiger aber auch schmackloser geworden, und nicht mehr festan den Kern sich schließe.

Wir übergeben das Buch wohlwollende Hände, dabei denken wir überhaupt an die segnende Kraft, die in diesen liegt, und wünschen, dass denen, welche diese Brosamen der Poesie Armen und Genügsamen nicht gönnen, es gänzlich verborgen bleiben möge.

Caſſel, am 18ten October 1812

 

...wohlwollende Hände....

 

 


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